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30. November 2023

Fahrbericht Hyundai Ioniq 5 N: Der moderne Delta Integrale

Zu den erfreulichsten Nebenwirkungen der politisch erzwungenen Elektrifizierung der automobilen Flotte in Europa gehören die neugewonnenen Freiheiten im Design – und die Umgruppierung der Markenlandschaft. So bewegen sich Hersteller wie Hyundai und Kia plötzlich im Premiumumfeld, während sich etablierte europäische Player mit den neuen Anforderungen erkennbar schwer tun. Dabei kommen schöne Produkte heraus wie der Hyundai Ioniq 5, den wir jetzt in seiner neuen Spitzenversion fahren konnten. Das Modell hört auf die Zusatzbezeichnung N, und das steht einerseits für das koreanische Entwicklungszentrum Namyang, andererseits für den Nürburgring – denn dort betreibt der Konzern eine Dependance, die sich um fahrdynamischen Feinschliff kümmert.

Mit dem i20 N und dem i30 N hat sich Hyundai unter den Freunden puristischer, erschwinglicher Kompaktsportler mit Verbrennungsmotor bereits einen sehr guten Namen gemacht, und jetzt will man auch bei den Elektroautos Pflöcke einschlagen. Deshalb positioniert Hyundai den Ioniq 5 N schärfer als jede andere sportliche Ableitung eines Elektroautos, die andere Marken bisher auf den Markt gebracht haben.

Das beginnt bei der Optik: Der Ioniq 5 N ist erheblich breiter als das Ausgangsmodell, er verfügt über auffälliges Flügelwerk und einen sehr sportlich gestalteten Innenraum mit Schalensitzen. Während sich deutsche Elektrosportler wie der Audi RS e-Tron GT oder die AMG-Varianten von Mercedes-Benz EQE und EQS optisch nur in Details von ihren schwächer motorisierten Basisversionen unterscheiden, hat die Hyundai-Designabteilung unter Sangyup Lee beim Ioniq 5 N alle Register gezogen.

Das Resultat unterscheidet sich so deutlich vom Basismodell, dass sich der Betrachter unweigerlich an eine Ikone der 80er-Jahre erinnert fühlt: Den muskulös-aggressiven Lancia Delta integrale, jene für den Rallyesport entwickelte Ableitung der noblen Kompaktlimousine Lancia Delta, die heute Kultstatus genießt. Die Analogie passt auch deshalb, weil der Ioniq 5 ohnehin eine einzige Verneigung vor den Giugiaro-Entwürfen der 70er und 80er Jahre ist, die damals im Delta ihre anspruchsvollste Ausprägung gefunden hatten.

Der Delta integrale zeichnete sich natürlich nicht nur durch seine stark modifizierte Form, sondern auch durch seinen aggressiven Antrieb aus: Einen turbogeladenen Sechzehnventiler, der seine Kraft auf alle vier Räder schickte. In seiner Klasse war er damals ein absoluter Spitzenreiter. Genau wie heute der 478 kW (650 PS) starke Hyundai Ioniq 5 N: Kein anderes Elektroauto in diesem Segment ist so leistungsstark, nicht einmal sein Schwestermodell Kia EV6 GT, mit dem er die E-GMP-Plattform teilt und der es auf immerhin 430 kW (585 PS) bringt.

Die Kraftentfaltung des Hyundai ist vom Stand weg geradezu explosiv, trotz seiner 2,2 Tonnen Leergewicht: Der Spurt von 0 auf 100 km/h dauert ganze 3,4 Sekunden, die Vmax liegt bei 260 km/h und damit unter Elektroautos ganz weit oben. Wir sind den Ioniq 5 N auf kalifornischen Freeways gefahren, wo der Verkehr mit relativ hohen Geschwindigkeiten fließt, und konnten ihn auch auf dem berühmten Angeles Crest Highway testen, wo Kurve auf schnelle Kurve folgt. Der N steht auf 275er-Pneus der Serie 35, das Fahrwerk ist straffer ausgelegt als bei den Schwestermodellen, er lenkt spontan ein, ist aber nicht frei von Seitenneigung. Seine großzügig dimensionierte Bremse lässt sich für ein Elektroauto erstaunlich präzise modulieren. Und das elektronisch gesteuerte Sperrdifferential erlaubt gut kontrollierbare Drift-Einlagen.

Dabei lassen sich drei unterschiedliche Klangwelten auswählen – vom simulierten Verbrennersound über futuristische „Performance“-Klänge bis hin zum Kampfjet. Oder der Klangsimulator bleibt aus. Aber das wäre schade, bietet der Ioniq 5 N doch ein besonderes Gimmick, das auf den Klang angewiesen ist und den Trennungsschmerz vom Verbrennungsmotor deutlich zu lindern vermag: Man kann per Lenkradpaddel acht Gänge durchschalten, die Simulation ist täuschend echt. Sogar die Nachverbrennung im Abgastrakt, die beim Gaswegnehmen in klassischen Sportwagen zuverlässig für Freude sorgt, haben die Koreaner per Software nachgebaut.

Der Charakter des Autos lässt sich vielfach einstellen und im Bordmenü konfigurieren; am meisten Spaß macht er bei eingeschaltetem „N Grin Boost“. Und die digitalen Verspieltheiten passen perfekt zum retrofuturistischen, laut Hyundai vom Cyberpunk inspirierten Stil dieses sportlichen Modells. Der Ioniq 5 N ist übrigens auch ein sehr gutes Elektroauto, mit 800-Volt-Netz, 350 kW Ladeleistung und voraussichtlich sehr ordentlicher Reichweite. Ein Blick nach vorn, eine Verneigung vor dem Kultauto der 80er – und eine Herausforderung: Ob Lancia selbst eine so gute Neuinterpretation des Delta integrale hinbekommt? 

(Quelle: Jens Meiners, cen)

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